Gastbeitrag von Modedesignerin, leidenschaftlicher Strickerin und Mutter, Irina Heemann.
Ich heisse Irina, bin Strickdesignerin und freue mich sehr darüber, euch heute über meine Arbeit, die vielen Facetten davon, die Nachhaltigkeit und die Freude an natürlichen Garnen zu erzählen.
Von der Socke zum Kleid
„Stricken ist für mich ein unerforschtes Gebiet!“ Mit diesem Satz habe ich 2013 die Präsentation meiner Masterthesis an der Luzerner Hochschule eröffnet.
Damals, nach dem ich meinen Bachelor of Arts in Modedesign an der Basler Hochschule gemacht habe, wollte ich mich technisch mit dem Stricken auseinandersetzen und begann 2011 das Masterstudium. Mein Thema war schnell gefunden: „Von der Socke zum Kleid – Die Anwendung der Stricktechnik der verkürzten Reihen auf Damenoberbekleidung“
Dass man Socken in Runden, nahtlos und trotzdem dreidimensional geformt stricken kann, wissen die Meisten.
Aber wieso die Technik der verkürzten Reihen, die diese Möglichkeit auch bei der Oberbekleidung bietet, nicht auch angewandt wird, war für mich nicht zu erklären. Und so begann ich zu forschen. Dabei half mir mein früheres, mehrsemestriges Studium der Mathematik an der Bremer Universität stets bei den Berechnungen und der dreidimensionalen Vorstellungskraft.
Dass es möglich ist Pullover nahtlos & in Runden zu stricken, wissen viele Strickerinnen. Dabei arbeitet man entweder von unten nach oben und nutzt die Abnahmen oder man strickt von oben nach unten und nutzt die Zunahmen (RVO= Raglan von oben).
Stricken ohne Naht
Ich wollte jedoch aufzeigen, dass man nicht nur in Runden stricken kann um keine einzige Naht machen zu müssen.
Das prägnante an meiner Möglichkeit ist die Strickrichtung, die sich verändert: mal strickt man seitwärts, dann von oben nach unten und dann wieder von unten nach oben. Und das alles in nur einem Strickstück!
Es ergeben sich Muster- und Designmöglichkeit, die beim Rundstrick verborgen bleiben.
Foto 4: Knospenjacke aus meinem Buch „Stricken ohne Naht“: das Muster mit den Knospen schlängelt sich von unten nach oben, über die rechte Schulter, waagerecht über den Rücken, über die linke Schulter und wieder nach unten.
Dieses Strickschnittsystem lässt sich nicht nur auf das Handstricken anwenden, sondern auch industriell auf den Strickmaschinen.
Mein nahtloses Stricksystem wurde im Abschlussjahr von zwei Designpreisen nominiert, in Deutschland und der Schweiz. Die beiden Nominierungen bestärkten mich in diesem Bereich weiter zu arbeiten. Drei Jahre nach meinem Masterabschluss, in denen ich weiterhin an der Technik geforscht und sie immer mehr ausgebaut habe, erschien 2016 mein erstes Strickbuch für Handstricker: „Stricken ohne Naht“ im Stiebner Verlag.
Direkt danach begann ich auch einzelne Modelle als digitale Anleitungen im Internet anzubieten: sowohl im eigenen Shop als auch auf ravelry.
Dass meine Denk- und Entwurfsweise von Strickbekleidung anders ist als die bislang Bekannten, ist mir bewusst. Für mich bedeutet es seither eine Art missionarischen Tätigkeit: Vorteile und Besonderheiten erklären, Hilfestellungen geben, motivieren etwas Neues zu lernen, usw.
Es stellt aber auch eine besondere Herausforderung an die Strickerinnen! Kürzlich erreichte mich mal wieder eine E-Mail von einer enthusiastischen Strickerin, die ein Modell nach meiner Anleitung gearbeitet hatte. Sie hat dabei eine ganz wichtige Tatsache notiert, die ich bereits mehrmals gehört habe:
„Deine Strickanleitung ist wie eine neue Sprache mit einer neuen Denkweise. Rückblickend ist es ganz einfach: exakt die Anleitung umsetzen, aber mechanisch ging das nicht.“
Couturekollektionen in Strick
Meine zweite Leidenschaft im Strickbereich bildet die Erstellung von Couturekollektionen.
Dabei arbeite ich manchmal sogar drei Wochen an nur einem Strickstück: Dieser Rock wurde aus ca. 2.000 einzelnen Kringeln erstellt. Jeder Kringel wurde aus einer Mischtechnik, Häkel- & Strick-, gearbeitet und danach per Hand auf einen, auf der Maschine gestrickten, Rock angenäht.
Bei dieser Arbeit geht es in erster Linie darum neue Möglichkeit im Strickbereich aufzuzeigen und nicht Modelle zu erstellen, die als tragbare Alltagsstücke zu verstehen sind.
Natürlich sind einige Stücke in ein besonderes Outfit integrierbar. Zum Beispiel diese Strickstrümpfe, die ich selbst mehrmal bei ausgewählten Anlässen, z.B. bei der Ausstellungseröffnung „LOOK! Modedesigner von A bis Z“ am Kölner Museum für Angewandte Kunst, getragen habe.
Im Jahr 2015 wurde eines meiner Coutureoutfits bei dieser Modeausstellung gezeigt. Ein ganz besonderer Moment! Meine Strickkreation, die aus Kopfbedeckung, Top, Rock und Strümpfen besteht, war neben all den bekannten Designern und Modelabels, Karl Lagerfeld, Christian Dior oder Alexander McQueen oder Chanel, vertreten.
Foto 9: Ich, von Hinten, betrachtend mein Outfit auf der Ausstellungsbüste im Kölner Museum für Angewandte Kunst (die Strümpfe, die ich trage sind ein Teil meiner Couturekollektion, die auch die Beine der Büste bekleiden)
Die Arbeit an Couturemodellen verhalf mir auch einen Namen als Strickdesignerin an zahlreichen Theater-, Ballett- und Opernhäusern zu machen. So erstelle ich für Deutschland, Schweiz und Österreich Strickkostüme für die Bühne: manchmal ganz unscheinbare, auf Mass erstellte Pullover und manchmal auffällige Strickkunstwerke.
Garnen natürlichen Ursprungs – Die Vorteile
Spätestens seit der Geburt meines ältesten Sohnes im Jahr 2009 ist meine Vorliebe zu Naturmaterialien, am besten naturbelassen und in Bioqualität, stetig gewachsen und brachte mich dazu einen Onlinewollshop zu eröffnen.
Die Vorteile von Garnen natürlichen Ursprungs sind einfach unschlagbar! Kein künstlich erzeugtes Garn kann bei all den hautfreundlichen Eigenschaften mithalten.
Ein gutes Beispiel wäre hierzu die atmungsaktive Eigenart: Beim Tragen von Strickstücken natürlichen Ursprungs entsteht kein Luftstau. Die Wärme, aber auch die Feuchtigkeit werden nach Aussen transportiert, was dazu führt, dass wir nicht schwitzen. Diese temperaturregulierende Fähigkeit ist besonders bei Baby- und Kinderbekleidung wertvoll. Wichtig ist dabei zu wissen, dass je weniger die Wolle behandelt wurde, z.B. gefärbt oder gegen das Filzen ausgerüstet, desto ursprünglicher ist sie und desto effektiver sind die genannten Eigenschaften. Während ich nun gerade mit unserem dritten Kind schwanger bin, kann ich mir keine bessere Kleidung für meine Kleinen als natürlich belassene Garne vorstellen!
Foto 11: Ein Babymodell aus reiner, in Süddeutschland erzeugten, Schafswolle. Das Modell „Herzchenweste“ findet man ebenfalls im Wollshop.
Im Gegensatz zu Naturfasern, die als nachhaltigsten Materialen der Welt gelten, werden künstlich erstellte Fasern wie z.B. Polyester oder auch Polyamid aus Erdöl, Erdgas oder Kohle erzeugt und benötigen bei ihrer Produktion eine Vielzahl von Chemikalien. Aber nicht nur die Produktions- sondern auch die Entsorgungskette ist mit einem enormen Energiebedarf verbunden.
Ich bin davon überzeugt, dass alleine der Gedanke und das Wissen „Erdöl“ auf der Haut zu tragen, nicht gerade prickelnd ist…
Kennt ihr dieses Gefühl ein rein natürliches Garn zu verstricken? Die Haptik des versponnenen Garnes, der ursprüngliche Duft und die wahrlich echte Strickstruktur, die beim Arbeit entsteht? Das ist für mich ein Genuss und Luxus zugleich. Eigentlich ist es doch ganz logisch: wir investieren Zeit und Liebe, wenn wir ein Strickstück erstellen. Sollte man da nicht ausschliesslich Materialien verwendet, die dem auch würdig sind?
Onlinewollshop für Naturgarne
In meinem immer wachsendem Wollshop bekommen die Strickerinnen ausschliesslich Naturgarne, von Alpaka bis Yak.
Jede einzelne Faser hat ihre besondere Eigenschaften: im Gegensatz zur Schafwolle, die von vielen als zu kratzig empfunden wird und einige sogar eine Allergie dagegen besitzen, ist zum Beispiel die Alpakawolle für feinfühlige & allergiegeplagte Menschen besser geeignet.
Die bislang vielen Strickerinnen noch nicht bekannte Yakwolle hat vergleichbare Eigenschaften wie die Kaschmirfaser und gehört somit auch zu den Edelhaaren.
Bei den pflanzlichen Fasern ist die Baumwolle der bekannte Allrounder. Jedoch erlebt Leinen aber auch Hanf, die bei uns in Europa schon bereits zur früherer Zeiten angebaut wurden, ihre Renaissance. Eine wunderbare Entwicklung, denn beide Fasern, Leinen & Hanf, verbrauchen viel weniger Wasser beim Anbau und sind resistenter gegen Schädlinge im Vergleich zur Baumwolle.
Die Mehrzahl der angebotenen Qualitäten besitzen nachhaltige Zertifizierungen, wie zum Beispiel GOTS, die die strengste Prüfung vom Anbau/Tierhaltung bis zum fertigen Garn bildet.
Aber auch das Bio- oder auch das Bioland-Siegel, bei den tierischen Fasern das kbT = kontrolliert biologische Tierhaltung und bei den pflanzlichen Fasern das kbA = kontrolliert biologischer Anbau, ist bei meinen Garnen zu finden.
Einige Garne färbe ich auch selbst: mit Pflanzen aus meinem eigenen Garten in Norddeutschland. Eine unglaublich spannende Tätigkeit, die allerdings teilweise nicht ganz „einschätzbar“ ist (weil die Farbtöne immer etwas anders ausfallen) – im Vergleich zur Mathematik, wo es nur richtig oder falsch gibt.
- Reines Kaschmirgarn, gefärbt mit Pflanzenfarben
- 100% Merino, GOTS, gefärbt mit Pflanzenfarben
Eine Besonderheit in meinem Shop bildet die Auswahl von Industriestrickgarnen. Seit meinem Florenzbesuch im Januar, bei dem ich die weltweit grösste Garnmesse, pitti filati, inspiziert habe, biete ich zahlreiche Wollqualitäten an. Diese werden von mir per Hand von den 1-2kg Konen in 25, 50 oder 100g Stränge gewickelt (auf Wunsch auch gerne die benötigte Garnmenge an einem Strang). Hierbei gibt es wieder ganz unterschiedliche Garne mit Bio- oder auch GOTS-Zertifizierungen, aber auch ungefärbte und naturbelassene Wolle. Wichtig ist hierbei die Anmerkung, dass es bislang keine Zertifizierung für einige tierische Wollfasern wie Kaschmir, Yak oder Kamel gibt.
Eine tolle & wichtige Entwicklung im Bereich Nachhaltigkeit ist die Auswahl an recycelten Industriegarnen. Das Kaschmirgarn z. B. wird aus aussortierten, zu 100% aus Kaschmir bestehenden, Strickbekleidung gewonnen. Nachdem sie nach Farben sortiert wurden, werden die Kleidungstücke geschreddert. Da einige Prozesse, die man ansonsten benötigt um aus Rohwolle Garn zu bekommen, wegfallen, werden Ressourcen wie Wasser oder Farbpigmente gespart. Zusätzlich sind die edlen Fasern, wie Kamel-, Kaschmir- oder auch Yak-, nur im geringen Umfang vorhanden und sollten zwingend geschätzt und geschont werden.
Ich würde mich sehr freuen, wenn der Umgang mit Garnen nach meinem Bericht bewusster stattfinden würde: zum Wohl von Mensch, Tier und natürlich für die Natur, die uns all die wunderbaren Sachen zur Verfügung stellt!
Liebe Birgit, ich danke dir für diese Möglichkeit, deine Leser über die Vielfalt von Strickgarnen zu informieren und würde mich über zahlreiche Rückmeldungen sehr freuen!
Herzlichst Irina
Noch mehr Informationen zu den Fasern und den einzelnen Garnunternehmen findet ihr in meinem Shop, unter oder auch auf meinem Instagramprofil.
Hilfestellung zu meinen nahtlosen Modellen, aber auch die Entstehungsprozesse dieser, findet man auf meinem Blog.
Über meine Arbeit für die Theaterhäuser und die Couturekollektionen berichte ich auf www.irinaheemann.com.
Fotos: Bei allen mitgeschickten Bilder liegen die Rechte bei Irina Heemann.